Blick von oben auf italienische Altstadt mit Kirche.
Montepagano, ein mittelalterliches Dorf in der italienischen Provinz Teramo. Foto: Affitta Camere

Alberghi diffusi - Urlaub in historischen Dörfern

Die engen Gassen sind der Hotelflur, das Restaurant um die Ecke ist der Speisesaal: Dass Touristen Tür an Tür mit Einheimischen leben, ist das Konzept der „Alberghi Diffusi“ in Italien, deren Zimmer über einen ganzen Ort verstreut sind, um ihn wieder zum Leben zu erwecken.

Jetzt keine Scheu! Unser Italienisch reicht zwar nur für ein „Buongiorno, signore“. Doch was soll’s: Seine Nachbarn muss man auf dem Weg zum ersten Cappuccino des Tages selbstverständlich herzlich grüßen, um nicht als unhöflicher Teutone abgestempelt zu werden. Die drei alten Damen in ihren bunten Sommerkleidern, die über die Via Aprile herrschen, eine blitzsaubere, blumengeschmückte Gasse in der Altstadt von Locorotondo in Apullien, antworten mit einem Wortschwall. Mamma Mia!

Später hilft netterweise eine Passantin beim Übersetzen, doch zunächst versteht man sich auch ohne Worte. Cosimina, mit 68 Jahren die Jüngste der Frauen, legt das blaue Wollknäuel und die Nadel beiseite. Der Priester, dem sie vor ein paar Tagen einen gehäkelten Einband für seine Bibel versprochen hat, muss warten. Sie verschwindet in ihrem Häuschen mit der blendend weiß gekalkten Fassade, holt aus der Küche zwei weitere Stühle und stellt sie demonstrativ aufs blank polierte Steinpflaster. Der Ortskern von Locorotondo ist autofrei, da kann man noch auf der Straße leben. Ihre Nachbarinnen Angela und Tonina, beide 78, verlieren derweil keine Zeit: Sie legen schon mal los mit der Fragerei: Woher wir kommen? Wie lange wir hier sein werden? Und ob wir Tipps brauchen?

Blick von Terrasse auf alte Kirche.
Blick von der Terrasse im Casa Degli Angeli in Locorotondo. Foto: Sotto le Cummerse

Angela, Cosimina und Tonina sind guter Laune: Endlich ist wieder etwas los vor ihrem Stammtisch vor dem Haus in der Via Aprile 82. Das war nicht immer so. Noch vor 20 Jahren wollte kaum jemand mehr im historischen Zentrum von Locorotondo wohnen, hier im Hinterland der Städte Bari und Brindisi in Apulien. Wer das Geld hatte, zog in die Neubausiedlungen der Umgebung. Dort waren die Wohnungen deutlich komfortabler ausgestattet als in den viele Jahrhunderte alten Häuschen mit ihren charakteristischen Spitzdächern aus Natursteinen.

Heute wohnen hier wieder tausend Menschen. Entlang der Umgehungsstraße mit dem weiten Blick über die Weinberge ins Valle d’Itria, dessen kegelförmige Trulli-Rundhäuser zum Unesco-Welterbe zählen, haben so viele neue Bars und Restaurants eröffnet, dass dort zur Mittagszeit und am Abend inzwischen eine Fußgängerzone eingerichtet wurde. Auch ins Zentrum, wo die Rentnerinnen tagein, tagaus in der Via Aprile sitzen, morgens und dann später erneut, wenn sich die Hitze des Tages verzogen hat und die Einheimischen bei ihrer passeggiata durch die Gassen flanieren, kommen immer mehr Touristen. Und damit immer mehr Leute, mit denen die Damen reden können. Oder zumindest über sie.

Das liegt am Unternehmer Angelo Sisto und seiner Frau Teresa Salerno, die eine besondere Unterkunft eröffnet haben. Ihr „Sotto le Cummerse“ ist nämlich kein klassisches Hotel. Zwar gibt es am Ortseingang von Locorotondo eine Rezeption. Doch statt per Aufzug kommt das Gepäck per Lastenfahrrad ins Zimmer. Die Appartements verteilen sich auf elf historische Häuser. „Albergo Diffusso“ heißt das Konzept, bei der eine ganze Gemeinde zum Gastgeber wird und man als Besucher Tür an Tür mit den Einheimischen wohnt.

Mauer und Eingangstor eines antiken Stadthauses.
Montepagano: Diese antiken Gebäude beherbergen edle Suiten. Foto: Affitacamere

Die Idee stammt vom Hotelmanager Giancarlo Dall’Ara. „1976 hatte ein Erdbeben viele Dörfer in der norditalienischen Region Friaul Julisch-Venetien verwüstet“, erzählt er. „Die Häuser wurden wieder aufgebaut, standen aber trotzdem leer, weil viele Bewohner im Laufe der Jahre wegzogen.“ Entvölkerte Dörfer gibt es auch in vielen anderen ländlichen Regionen Italiens, weil die Jungen dort keine Arbeit finden und nur noch die Alten ausharren. Mit einem nachhaltigen Tourismuskonzept könne man solchen Orten vielleicht neues Leben einflößen, überlegte der Experte. „Aber nicht mit Neubauten, die das Ambiente zerstören. Und nur gemeinsam mit der lokalen Bevölkerung: Von Hoteldörfern, in denen nur noch Touristen leben, halte ich nichts.“

Suite in einem antiken Gebäude mit Himmelbett und moderner Einrichtung.
Montepagano: Schlafen wie in der Antike mit mordernem Komfort. Foto: Affitacamere

Inzwischen gibt es in Italien etwa hundert Alberghi Diffusi in Dörfern und kleinen Städten. In Apulien an der Stiefelspitze war Angelo Sisto der Pionier: Er setzte auf das Potenzial des Hinterlands, als andere Unternehmer noch nur an die Badeurlauber an der Küste dachten. „Vor 20 Jahren gab es im Zentrum von Locorotondo keine einzige Unterkunft. Statt neu zu bauen mit allerlei Luxus und riesigem Pool auf dem Dach, habe ich alte Häuser aufgekauft und renoviert.“ So laufe es in den meisten Fällen, kommentiert Giancarlo Dall’Ara. „Es ist zwar eine tolle Vorstellung, dass verschiedene Besitzer ein Management beauftragen und ihre Häuser gemeinsam vermieten. Doch in der Realität klappt das meist nicht: Man braucht jemanden, der die Fäden in der Hand hält und die Qualität sichert.“

Um die lokale Wirtschaft zu fördern, haben Alberghi Diffusi keine Restaurants – Gäste sollen in bestehenden Lokalen essen. Tipps gibt es an der Rezeption, doch auch die drei Nachbarinnen aus der Via Aprile erteilen Auskunft. Ob man schon Fava probiert habe? So heißen jene Ackerbohnen, die Angela und Tonina gerade Samen für Samen pulen. Sie kennen die beste Adresse zum Probieren: In der Via Dura servieren Margherita und ihr Mann Peppino im Restaurant U’Curdunn die Bohnen als Mus mit gedünsteten Schnittzichorien. „Neben Orecchiette-Nudeln ist Gnumarred suffuchet unsere Spezialität“, erklärt die Chefin. Was ist das bitte? „Lammkutteln!“ Auf die Nachfrage, ob es auch andere Leckereien gebe, empfiehlt sie allen Ernstes Eintopf mit Eselfleisch. Doch keine Angst: Es gibt auch schmackhafte vegetarische Gerichte. Und noch ein Tipp: In der Pizzeria Quanto Basta in der Via Morelli arbeitet Giulio, der den Titel als weltbester Pizzaiolo gewonnen hat. Der Teig seiner Sieger-Pizza ruht vor dem Backen im Holzofen 48 Stunden. Als Belag verwendet der Maestro Kirschtomaten, Sardellenfilets, Melanzani sowie dreierlei regionalen Frischkäse – Burratina, Caciocavallo und Stracciatella.

Menschen lauschen in einem alten Castell einem Konzert.
In Castello di Proceno kann man in einer Festung schlafen. Foto: Alberghi diffusi

„Man will unterwegs das essen, was auch die Einheimischen bestellen, und nicht ein eigens kreiertes Touristen-Menü“, kommentiert Giancarlo Dall’Ara. Das liegt im Trend: 91 Prozent der Kunden der Buchungsplattform AirBnB wollten bei ihren Reisen leben wie Einheimische, verkündet der Konzern, der sich selbst preist als „globale Community, die magische Reiseerlebnisse anbietet“. Der Online-Marktplatz für Unterkünfte löst das aber nur selten ein. „Oft trifft man nicht mal bei der Schlüsselübergabe den Vermieter der Unterkunft“, kritisiert Giancarlo Dall’Ara. „Das ganze Gerede von Gemeinschaft ist doch nur Marketing.“ AirBnB und andere Portale stehen in der Kritik, weil in immer mehr Städten die Einheimischen unter dem Zustrom von Touristen leiden. Mieten steigen, viele Wohnungen werden überhaupt nicht mehr langfristig vermietet. Um nicht Teil dieses Problems zu sein, gebe es keine Alberghi Diffusi in größeren Städten. „Dort würde das Konzept ohnehin nicht funktionieren: Es fehlt die Atmosphäre.“

Exportiert wird die Idee aber: Jüngst wurden im japanischen Pilgerort Yakage alte Häuschen aus der Edo-Zeit in Unterkünfte umgewandelt, und Giancarlo Dall’Ara hat für neue Alberghi-Diffusi-Projekte China im Blick. Vielleicht gibt es bald auch das erste Albergo Diffuso im deutschsprachigen Raum. Im 2.400-Einwohner-Ort Mainbernheim bei Würzburg überlegt man seit einiger Zeit, ob die Idee ein Konzept sein könnte gegen den Leerstand in der Innenstadt. Charme hat das historische Markgrafenstädtchen im fränkischen Teil von Bayern. Jetzt braucht es nur noch einen Prinzen, der das Dornröschen wachküsst.

Autor: Helge Bendl

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zuletzt geändert am 28.04.2020

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