Eine langhaarige Person liegt in einer türkisblauen Hängematte auf einem Segelboot.
Segeln und an sich selbst arbeiten mit Frank Waltritsch. Foto: skipa.at

Retreat - Reisen zu sich selbst

Manchmal muss man wegfahren, um bei sich anzukommen. Der Abstand zum Alltag hilft, den Fokus wieder auf die eigenen Bedürfnisse und Gedanken zu legen – egal, ob beim Retreat in der Gruppe, beim Schweigen im Kloster oder beim Spaziergang im Wald.

Hilfe, holt mich hier raus! An manchen Tagen erwacht der Fluchtinstinkt in uns und wir wollen einfach nur weg. Weg vom Gewohnten. Weg aus dem Hamsterrad. Weg von den anderen. Und das ist vollkommen in Ordnung. Manchmal brauchen wir eine Auszeit und eine fremde Umgebung, um in uns selbst hineinzuhören, unsere Gedanken zu sortieren und unseren eigenen Bedürfnissen auf den Grund zu gehen. Das Reisen hilft dabei – es lockt uns aus dem gewohnten Trott und wirft uns aus der persönlichen Komfortzone.

Mit der Landschaft und Sprache ändert sich auch etwas im Inneren. Durch körperliche Bewegung kommt vieles ins Rollen, was zu Hause verborgen in einer Ecke schlummert. Dabei ist es eigentlich egal, wohin die Reise geht: auf den Berg in der Nachbargemeinde, in die Abgeschiedenheit einer Wüste, auf eine entlegene Insel, ein Pilgerziel vor Augen oder ein spirituelles Wochenende – ein Selbstfindungstrip ist überall möglich.

Mit oder ohne Plan?

Aller Spontanität zum Trotz hilft eine gute Planung, damit der Trip nicht zur großen Enttäuschung wird. Dabei stellt sich nicht nur die Frage des Wohins, sondern auch des Warums. Warum möchte ich überhaupt in meine innere Welt reisen? Gab es einen Schicksalsschlag oder ein markantes Lebensereignis, können innere Reisen eine Möglichkeit sein, Erlebtes in Ruhe zu verarbeiten. Andere möchten vielleicht etwas in ihrem Leben verändern, aber wissen noch nicht wie und was. Ein Tapetenwechsel kann die Gedanken klären, Mut und Energie geben. Aber die Motivation darf auch ganz simpel sein: das Bedürfnis, sich selbst besser kennenzulernen, um so auch andere besser zu verstehen, neue Kraft zu tanken, sich selbst zu spüren und in sich zur Ruhe zu kommen.

Im Alltag vergessen wir häufig darauf, auf uns selbst zu achten und in uns selbst hineinzuhören. Ein paar strategische Überlegungen vorab helfen bei der Auswahl von Programmen und Plätzen. Frische Impulse und Gespräche mit anderen können bereits an einem Wochenende für einen Perspektivenwandel sorgen. Dennoch sollte nicht jede Stunde verplant sein. Es braucht auch Zeit für das reflektierende Nichtstun, das Nachdenken und Einordnen der Gedanken.

Ein älteres Paar sitzt auf einem stark bemoosten Felsen in einem Nadelwald beim
Waldluftbaden in der Waldhügelwelt Mühlviertel. Foto: Ludwig Pullirsch

An eigene Grenzen gehen

Für jene, die etwas Radikaleres brauchen und einmal an die eigenen Grenzen gehen möchten, bietet sich zum Beispiel ein Survivaltraining in der Natur an. Verschiedene Herausforderungen müssen dabei im Team oder individuell gemeistert werden – vom Feuermachen bis hin zum Umgang mit den eigenen Gefühlen und Ängsten. Mehr denn je hängen wir von der Technik ab. Wasser aus dem Hahn, Wärme vom Heizkörper, Nahrung aus dem Supermarkt und Anerkennung durch virtuelle Likes. Fällt das alles weg, reagieren Menschen unterschiedlich darauf. Die einen sehen das positiv und suchen ruhig nach kreativen Lösungen, während sich andere erst einmal überfordert fühlen. Dies zu spüren, kann sehr wertvoll sein. Solche Trips in der Natur fokussieren uns auch auf das Wesentliche: Plötzlich wird klar, wie viel Ballast wir im Leben mitschleppen und welche Dinge einem wirklich wichtig sind.

Wasser gewinnen, Schneeschuhe aus Ästen bauen, Wildpflanzen zum Essen finden, sich in der Natur ohne Hilfsmittel orientieren: Fähigkeiten, die früher für das Überleben bedeutend waren, brauchen wir heute selten. Trotzdem liegt in ihnen eine große Kraft: Wer sie sich wieder aneignet, fühlt sich danach sicherer und stärker. Vorurteile, alte Muster oder Denkweisen lassen sich aufbrechen und sogar ablegen. Egal, was erlebt wird, jeder Ausflug in die Natur bringt uns persönlich weiter. Wir brauchen es nur zulassen und unsere Erfahrungen bewusst reflektieren.

Gemeinsam oder einsam?

Es ist wichtig, sich zu fragen, in welchem Gefüge man seine Innenreise antreten möchte. Wer die Ruhe sucht, sollte sich zum Beispiel nicht unbedingt zum Gruppenfasten im Kloster anmelden, bei dem jede Stunde mit gemeinsamen Aktivitäten durchgetaktet ist – dabei bleibt kaum Zeit für intensives Nachdenken und reflektieren. Alleine loszuziehen, kann in diesem Fall effektiver sein. Niemand gibt den Takt vor, niemand ist da, auf den Rücksicht genommen werden muss. Das macht gleichzeitig auch offener für das Außen, für Land und Leute. Wer neugierig und offen bleibt, wächst über sich selbst hinaus.

Eine Gruppe von Gleichgesinnten kann andererseits durch den Austausch für eine frische Perspektive aufs Innere und Äußere sorgen. Auch die Gruppendynamik darf nicht unterschätzt werden. Der Lauf übers Feuer. Das Benennen von Herausforderungen. Der Wille zur Veränderung. Andere Teilnehmer*innen können Mut machen, einen zum Weinen und Lachen bringen oder mit ihrer Energie mitreißen. Miteinander können einem Dinge leichter fallen und die Sichtweise der anderen kann überraschend anders sein.

Eine Frau schreibt etwas mit Bleistift auf eine Collage aus Bildausschnitten und Notizpapier.
Soulwriting im Stift Reichersberg. Foto: Petra Nestelbacher

Momente festhalten

Aufschreiben unterstützt beim Erinnern und Merken. Gerade die innersten Gedanken und Bedürfnisse lassen sich oft leichter niederschreiben als aussprechen – nicht umsonst heißt es, sich Dinge von der Seele zu schreiben. Ein Reisetagebuch kann dabei gute Dienste leisten. Das kann seitenweise Gedankengeplauder sein oder ein paar Stichworte, kurz und knackig. Besonders schön ist es, legt man vor der Reise bereits die Form des Tagebuchs fest. Das können zum Beispiel am Ende jedes Tages fünf Punkte sein, die man nicht vergessen möchte oder für die man dankbar ist. Listen eignen sich sogar, um unterwegs seine schrägsten oder genialsten Gedanken festzuhalten. Das können wir auf der Reise zu uns selbst nützen. „Wir selbst entscheiden, wer wir sind“, schreibt Sabrina Fleisch in ihrem Buch „Meine Reise zu mir selbst“. Entsprechend groß ist unser Gestaltungsspielraum.

Wer aber Wunder erwartet, wird enttäuscht sein. Veränderung kann, muss aber nicht von heute auf morgen passieren. In kurzer Zeit kann sich viel tun – oder eben auch nicht. Beides ist in Ordnung. Hohe Erwartungen und Ansprüche dürfen getrost zu Hause gelassen werden. Manchmal helfen bereits kleine Fluchten aus dem Alltag – eine Stunde allein im Wald, in der Sonne sitzen und einfach mal hinaus auf den Horizont schauen oder am Lieblingsplatz zu Hause tief durchatmen. Wichtig: Es muss stimmig und anregend für einen selbst sein. Unsicher, was das sein könnte? Einfach einmal mit etwas anfangen, was man schon immer mal ausprobieren wollte: Yoga am Meer, Töpferkurs am Land oder Coaching in der Natur. Lassen wir das Bauchgefühl oder den Zufall entscheiden. Schließlich geht es um das bewusste Aufbrechen und Zeitnehmen für das Ankommen bei sich selbst. Reisen kann ein Weg dazu sein.

Autorin: Anita Arneitz

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zuletzt geändert am 09.08.2023

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