Osttirol - von Ruhe und Weite umarmt
Am Berg meditieren, von Tal zu Tal wandern und auf der Alm übernachten: In Osttirol ist sanfter Tourismus kein Marketing-Gag, sondern wird ganz selbstverständlich gelebt.
Es wirkt, als hätte jemand einen Pinsel in die Hand genommen und mit größter Sorgfalt sattgelbe Farbtupfer verteilt: Im Osttiroler Kalsertal blühen im Frühsommer abertausende Löwenzähne und verwandeln das Grün der Wiesen in natürliche Gemälde. Dahinter erstrecken sich bewaldete Hügel und mit Schnee bedeckte, schroffe Gipfel. Am Kalser Talende, auf rund 1.500 Meter Seehöhe, startet die Wanderung ins Dorfertal. Was in den 1920er Jahren zum Wasserkraftwerk mit Stausee werden sollte (ein Vorhaben, das auf heftigen Gegenwind stieß), ist heute Teil des Nationalparks Hohe Tauern. Wandernde durchstreifen eine wildromantische alpine Landschaft mit rauschenden Wasserfällen, Schotterfluren, Lärchenwäldern und Wiesen.
Urlandschaften wie das Dorfertal finden sich in Osttirol zuhauf. Die Region ist stolz darauf, vom Massentourismus verschont geblieben zu sein. Keine einzige Autobahn schneidet sich durch die Täler. Bettenburgen gibt es kaum. Jedes Tal hat seinen eigenen Charakter. Viel lohnender als ein hektischer Rundumtrip ist es, vor dem Urlaub ein einziges Tal auszuwählen. „Das Auto können Sie gerne daheimlassen. Kommen Sie mit dem Zug, steigen Sie aus und erkunden Sie zwei oder drei Wochen lang zu Fuß die Gegend“, empfiehlt ein Osttirol-Liebhaber. Mobil ist man auch so: Alle öffentlichen Busse sind für Gäste mit Gästekarte kostenlos. Der Tourismusverband wirbt mit 2.500 Kilometern Wanderwegen, 600 Kilometern Bikerouten, 266 Dreitausendern und „viel Platz für die individuelle Entfaltung“. Und wo könnte man sich besser entfalten als in den Bergen?
Die Kraft der Hohen Tauern
Eine, die es wissen muss, ist Irmgard Wibmer. Die gebürtige Matreierin ist Gesundheitspädagogin, Bergwanderführerin und Meditationslehrerin. Heute lebt sie in Kals und ist in den Tälern unterhalb des Großglockners seit vielen Jahren zum Meditieren unterwegs (www.wandernzumsein.tirol). „Die Hohen Tauern haben eine extrem kraftvolle, in die Tiefe gehende Präsenz“, ist sie überzeugt. „Diese Energie kann sehr fordernd sein, Blockaden ins Bewusstsein rufen und etwas im Inneren des Menschen aufmachen.“ Ruhesuchenden empfiehlt sie das abgelegene Teischnitztal. Auch im Hochsommer sei hier eher wenig los. Das liege daran, dass man erst einmal zweieinhalb Stunden wandern müsse, um die Teischnitzebene zu erreichen.
Sanftes, sonniges Hochtal
Im Gegensatz zur fordernden, kraftvollen Energie des Teischnitz- und Ködnitztals unterhalb des Großglockners strahlt das vom Großvenediger geprägte Virgental eine weitaus sanftere Energie aus. Wibmer schätzt am sonnenreichen Tal das Heimelige, das Gebende, das Zur-Ruhe-Kommende. Das bestätigt die Nationalpark-Rangerin Ruth Bstieler – eine überzeugte Virgentalerin: „Unser Tal ist sehr ruhig und erholsam. Ich möchte nirgendwo anders wohnen. Du gehst bei der Haustür hinaus und bist in der Natur – egal, ob es die Virger Feldfluren mit ihren Wiesen und Klaubsteinmauern sind oder eine Wanderung entlang der Isel.“ Auch auf den zahlreichen Almen im Virgental sei man schnell. „Dort kann man so richtig loslassen und der stressige Alltag ist sofort weit weg.“
Wieder mehr auf die Natur achten
Bei den Touren mit den Rangern und Rangerinnen des Nationalparks Hohe Tauern (www.hohetauern.at) geht es aber um mehr als nur darum, abzuschalten. „Wir wollen auf Artenschutz und Naturverbundenheit aufmerksam machen und die Folgen des Klimawandels bewusst machen“, erklärt Bstieler. Das geschieht etwa bei den Kräutertouren im Virgental. Dabei erfahren Gäste unter anderem, dass die Almen gemäht werden müssen, um die Artenvielfalt zu erhalten. Oder sie entdecken Pflanzen wie das Kohlröschen, eine rotbraune, geschützte Orchidee, die intensiv nach Vanille riecht. „Es ist wichtig, dass wir alle wieder einen Schritt zurückgehen und mehr auf die Natur achten, damit auch unsere Kinder eine gute Lebensqualität haben“, ist Bstieler überzeugt.
Wenige Einwohner*innen, viele Stammgäste
Einen Schritt zurückgehen und sich selbst näherkommen – dafür liefert auch das Defereggental die besten Voraussetzungen. Es gilt als eines der am wenigsten besiedelten Gebiete der heimischen Alpen. Schon während sich der Postbus die Bundesstraße durch das 42 Kilometer lange Hochtal hinaufschraubt, breitet sich das Gefühl aus, der hektischen Welt da unten immer weiter zu entfliehen. Hopfgarten, St. Veit und St. Jakob – Osttirols älteste Siedlung: drei Orte mit insgesamt nicht einmal 2.500 Einwohner*innen, umgeben von rund 50 Dreitausender-Gipfeln.
Es sind vor allem Ruhesuchende, die in den meist familiengeführten Hotels und Pensionen ihren Urlaub verbringen. Sie wandern entlang des Wassererlebniswegs, rund um den Staller Sattel und den Obersee an der Grenze zu Südtirol oder hinauf zur Jausenstation Trojer Alm (1.810 Meter), um Käseknödel oder Osttiroler Schlipfkrapfen zu essen. Viele Stammgäste kommen schon seit Jahrzehnten, in zweiter oder dritter Generation, manche mehrmals pro Jahr. Man kennt sich untereinander, der Schmäh am Frühstücksbüfett rennt.
Durch den Zirbenwald auf die historische Alm
Einer der Höhepunkte für viele Besucher*innen im Defereggental ist die Wanderung durch den Oberhauser Zirbenwald zur 2.009 Meter hoch gelegenen Jagdhausalm. Im größten zusammenhängenden Zirbenwald der Ostalpen thront ein neuer, 22 Meter hoher Beobachtungsturm. Von hier aus reicht der Blick weit über die Baumwipfel. Mit etwas Glück sind Rehe, Gamsböcke, Bartgeier oder Steinadler auszumachen. Die Jagdhausalm wird auch „Klein-Tibet der Alpen“ genannt. Im Jahre 1212 erstmal erwähnt, gehört sie zu den ältesten Almen Österreichs. Die 16 Steinhäuser und die Kapelle stehen unter Denkmalschutz. Die Alm selbst wird von einer Agrargemeinschaft aus dem nahegelegenen Südtirol bewirtschaftet. Von Sommer bis Herbst verbringen rund 350 Rinder die Almsaison hier oben. Die Steinhütten sind den Senner*innen zum Schlafen vorbehalten. In einer Almwirtschaft werden Wandernde verköstigt.
Schlafen in urigen Holzhütten
Übernachten in einer „echten“ Almsiedlung können Gäste auf der anderen Seite der Berge: Das Villgratental ist ein Seitental des Osttiroler Pustertals. Über steil abfallende Bergwiesen verteilen sich Bergbauernhöfe, vom Wetter gegerbte Holzhäuser und Almhütten. Früher verbrachten die Bauern ihren Almsommer hier. Eines dieser Hütten-Ensembles ist die Oberstalleralm. Das denkmalgeschützte Almdorf mit 18 hölzernen Almhütten und einer Kapelle liegt auf mehr als 1.800 Meter Seehöhe. Statt elektrischer Lampen erhellen Petroleumlampen die einfachen Stuben. Warmwasser muss am Holzofen erhitzt werden. Duschen gibt es nicht, aber einen Brunnen zum Waschen. Der Luxus sind das Abgeschiedene, das Einfache – und ein Panorama, dass die Seele umarmt.
Autorin: Maria Kapeller
Anreise
Mit der Bahn bis nach Lienz und dann mit Regionalbussen in die Täler.
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zuletzt geändert am 17.08.2024